Die Hexe erzählt von den bösen Kindern (Hänsel u. Gretel)

Hänsel und Gretel

Die Geschichte vom bösen Hänsel, der bösen Gretel und der Hexe

von Paul Maar

Es waren einmal ein Hund und ein Löwe, die sich gegenseitig Geschichten erzählten. Eines Tages war der Löwe mit dem Erzählen dran und fing an:

Hexenhaus

Es war einmal eine alte Hexe, die hatte ihr ganzes Leben lang gearbeitet, hatte gezaubert vom frühen Morgen bis zum späten Abend, hatte gehext und Zaubersprüche aufgesagt jeden Tag und war nun in das Alter gekommen, wo ihre Zauberkraft nachließ und ihre Kräfte langsam schwanden.

Sie wurde aber nicht böse und giftig darüber wie manche andere Hexen, wenn Sie so alt werden, sondern sagte sich: "Mit meiner Zauberkraft geht es zu Ende. Da will ich mir eine andere Beschäftigung suchen, damit ich nicht faulenzen muß und auf trübe Gedanken komme. Ich werde mein Haus zum schönsten Hexenhaus weit und breit machen!"

Und schon am nächsten Tag begann sie, ihr Häuschen aufs wunderlichste zu schmücken. Auf die Dachziegel legte sie Lebkuchen, die Wände verkleidete sie mit Brot und Kuchen, verziert mit Mandeln und Nüssen, ihre Glasfenster hängte sie aus und hängte neue ein, ganz aus weißem Zucker. Das dauerte viele Wochen; jeden Tag mußte die alte Frau in der Küche stehen und backen. Aber sie arbeitete unermüdlich, und endlich war das Häuschen fertig.

Da war die Hexe stolz auf ihr Haus! Jeden Abend saß sie auf der Bank neben der Haustür, betrachtete die bunten Mauern, hexte mit ihrer versiegenden Zauberkraft mühsam noch einen roten Zuckerguß auf einen Kuchen oder verzierte einen Lebkuchen mit einer Nuß, wischte Staub und rieb die Zuckerscheiben glänzend.

Und wenn irgendein Tier an ihrem Haus vorbeikam, staunend stehenblieb und schließlich sagte: "So ein schönes Haus habe ich noch nie gesehen", wurde sie grün vor Stolz.

Eines Tages stand die Hexe gerade vor ihrem Backofen und wollte einen Lebkuchen backen, weil der Wind in der Nacht einen vom Dach geweht hatte. Da war es ihr, als knuspere draußen jemand an ihrem schönen Haus und breche ganze Stücke ab. Ängstlich rief sie:

"Knusper, knusper, kneuschen.
Wer knuspert an meinem Häuschen?"
Von draußen antwortete ein dünnes Stimmchen:
"Der Wind, der Wind, das himmlische Kind!"

"Da bin ich beruhigt", seufzte die Hexe erleichtert. "Es ist nur der Wind, der da draußen lärmt. Und ich hatte schon Angst, jemand wolle mein Häuschen zerstören."

Wie sie das gerade sagte, zersprang ihre schönste Fensterscheibe, an der sie drei Wochen gearbeitet hatte, ein Mädchen griff nach den Splittern und aß sie auf! Mühsam humpelte die Hexe nach draußen, um zu sehen, wer der Störenfried sei.

Vor dem Haus standen zwei Kinder, das Mädchen und außerdem ein Junge, rissen die Dachziegel herunter, um sie aufzuessen, zerbrachen die Wand und zersplitterten die weißen Zuckerfenster.

Gretel am kaputten Fenster

Da war die Hexe traurig und wütend zugleich.
"Wer seid ihr?" fragte sie. "Und warum zerstört ihr mein liebes Haus, an dem ich so lange gebaut habe?"
Die Kinder antworteten, sie hießen Hänsel und Gretel und hätten aus Hunger von dem Haus gegessen.
"Warum habt ihr aber gelogen und gesagt, ihr wäret der Wind?" forschte die Alte weiter. "Hättet ihr an meine Tür geklopft und um Essen gebeten, so hätte ich es euch nicht verwehrt!"
Da blickten die beiden Kinder beschämt zu Boden.

Aber weil sie der alten Hexe trotz allem leid taten, sagte sie: "Kommt nur herein und bleibt bei mir, es geschieht euch kein Leid!" Und sie faßte beide an der Hand und führte sie in ihr Häuschen. Da ward gutes Essen aufgetragen, Milch und Pfannkuchen mit Zucker und Äpfel und Nüsse. Hernach wurden zwei schöne Bettlein weiß gedeckt, und Hänsel und Gretel legten sich hinein und meinten, sie wären im Himmel. Als sie so friedlich schliefen, betrachtete die Hexe sie und sagte: "Sie waren sehr böse zu mir, haben gelogen und mein schönes Häuslein zerstört. Aber vielleicht sind sie nicht ganz verderbt. Ich will sie dabehalten, ihnen zu essen geben und versuchen, sie zu bessern."

Am nächsten Morgen gab sie den beiden eine leichte Arbeit zu tun und rührte dann einen Teig an, denn sie wollte den Schaden an ihrem Haus wieder ausbessern. Aber Hänsel, der naschhaft war und dem die süßen Lebkuchen auf dem Dach besser schienen als das Frühstück auf dem Tisch, ging hinaus und begann leise vom Haus zu essen.

Als das die Hexe merkte, wurde sie sehr zornig. "Ich habe dich nicht bestraft für deine Lügen und deine bösen Taten, sondern dir und deiner Schwester sogar zu essen und ein Bett zum Schlafen gegeben!" schalt sie. "Und du ungezogenes Kind lohnst es mir, indem du den Schaden an meinem Haus noch ärger machst!" Und zur Strafe und damit er nicht noch mehr Unheil anrichten konnte, sperrte sie ihn in einen Stall neben dem Haus.

Damit er es aber gut hatte in seinem Gefängnis und nicht zu hungern brauchte, fragte sie ihn oft durch das Gitter: "Bist du auch satt, bekommst du genügend zu essen? Streck deinen Finger heraus!"

Hänsel hatte sehr viel zu essen bekommen, aber da er sehr gefräßig war, täuschte er die alte Frau, die schon nicht mehr richtig sehen konnte, durch eine arge List, um noch mehr zu erhalten: Er streckte ein abgenagtes Knöchlein durch das Gitter und sagte mit kläglicher Stimme: "Meine Schwester gibt mir zu wenig Mahlzeiten, ich bin schon ganz mager."

Die Alte betastete das Knöchlein und sagte: "Fürwahr, er ist ganz mager! Gretel, er muß mehr zu essen bekommen!"
Die Grete aber, die ein faules Mädchen war, maulte und sagte, sie könne nicht kochen.
"Dann mußt du eben backen!" rief die Hexe und heizte den Backofen an, um für den Hänsel eigens ein großes Brot zu backen. Als sie aber das Feuer angeschürt hatte und gerade nachsehen wollte, ob recht eingeheizt sei, da gab ihr die arglistige Gretel von hinten einen Stoß, daß die Hexe weit hineinfuhr, machte die eiserne Tür zu, schob den Riegel vor, und die arme Alte mußte elendiglich verbrennen.

Dann befreite das böse Mädchen ihren Hänsel aus dem Stall, wo er seine Strafe absitzen sollte, und sie durchwühlten gemeinsam das ganze Hexenhaus.

In einer Ecke hatte die Hexe eine Kiste mit Perlen und Edelsteinen stehen, die ein Erbstück von ihrem Väter war, einem großen Hexenmeister. Die raubten die beiden Kinder, stopften sich die Taschen voll mit Schmuck und Geschmeide und liefen schnell aus dem Wald.

"Und weißt du, was sie hinterher den Leuten erzählten?" fragte der Löwe den Hund.
"Was denn?" fragte der mit großen Augen.
"Sie haben doch wahrhaftig behauptet, die Hexe hätte sie aufessen wollen! Diese bösen Kinder!"
"Ich muß sagen", entgegnete der Hund, "ich habe die Geschichte nicht so erzählt bekommen. Da hörte sich alles ganz anders an, obwohl eigentlich das gleiche geschah!"
"Aha!" machte der Löwe. "Da sieht man es wieder: Die Leute glauben viel lieber die Unwahrheit als die Wahrheit und erzählen dann ohne schlechtes Gewissen die Lügengeschichten weiter! Denn die Geschichte hat sich so zugetragen, wie ich sie dir mitgeteilt habe, das weiß ich von jener Hexe, die sie mir anvertraut hat."
"Wenn das so ist", überlegte der Hund, "dann möchte ich gerne einmal Rotkäppchen von einem Wolf erzählt bekommen!"

Rotkäppchen jagt den Wolf


 
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